Texte über Gottfried Jäger

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Bernd Stiegler

Gottfried Jäger: Der Fotograf der Fotografie

Laudatio
Zur Verleihung des Kulturpreises 2014
der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) Berlinische Galerie, Berlin, 7. März, 2014

Wenn es einen Fotografen der Fotografie gibt, dann ist es Gottfried Jäger. Doch was kann es überhaupt heißen, ein Fotograf der Fotografie zu sein? Subjekt und Objekt scheinen hier identisch zu sein, die Fotografie Gegenstand und Verfahren zugleich. Für Gottfried Jäger ist diese Konstellation der Ausgangspunkt einer radikalen, reflektierten wie selbstreflexiven und in luzider Weise konsequenten Erkundung der Fotografie als solcher, die vieles zugleich ist. Da Gottfried Jäger ein geheimer Dialektiker ist, der in seinen Büchern die fotografische und theoretische Welt und auf seiner Homepage auch seine fotografischen Arbeiten in triadische Ordnungen bringt, greife ich auch auf eine Dreiteilung zurück. Der erste Teil ist mit „Konkrete Autonomie“, der zweite mit „Es kommt der Fotograf der Fotografie“ und der dritte schließlich mit „Fotografische Weltkarte“ überschrieben.

1. Konkrete Autonomie

Gottfried Jägers Erkundung der Fotografie der Fotografie ist zuallererst eine ästhetisch- politische Entscheidung: Zu einer Zeit, als der Mai 68 vor der Tür steht, prägt er zusammen mit Kilian Breier, Pierre Cordier und Hein Gravenhorst durch eine Ausstellung den Begriff und auch die bildgewordene Anschauung der „generativen Fotografie“. Die Ausstellung in Bielefeld, die vier Wochen im Januar und Februar 1968 im dortigen Städtischen Kunsthaus zu sehen war, scheint von den sich abzeichnenden politischen Ereignissen weit entfernt und ist doch eine klare, dezidierte Positionierung. Gemäß Alexander Kluges Diktum „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“ navigiert Jäger mit seinen Gefährten nämlich nicht zwischen der Skylla der Subjektiven Fotografie der Steinert-Schule und der Charybdis der sogenannten Totalen Fotografie à la Pawek, die seinerzeit hegemonial die fotografische Welt dominierten, hindurch und zerschellt auch nicht an einer ihrer Felsen, sondern schlägt listig einen anderen Weg ein. Er vermeidet die Klippen der Dialektik der Aufklärung und ist doch ganz Aufklärer und dabei eben auch ein raffinierter Dialektiker. Vor die Alternative gestellt, zwischen der Innenwelt und dem subjektiven Eindruck einerseits oder dem „neuen Realismus“ anderseits zu wählen, sucht Gottfried Jäger nach der „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ und macht das Innere der fotografischen Prozesse zum Gegenstand der Fotografie. Diese Entscheidung und der Weg, der sich dadurch folgerichtig ergibt, ist einer, der mit der 68er-Bewegung auf den ersten Blick wenig zu tun hat, aber gleichwohl das stark zu machen sucht, was nach Adorno das Wesen der Kunst ist: ihre Autonomie.

Die Generative Fotografie ist der Versuch, für die Fotografie ihre Autonomie zurückzuerobern, ihre verlorene oder nie gewonnene Freiheit wieder- oder überhaupt erst zu gewinnen und zugleich in radikaler Weise eine neue Bildsprache zu entwickeln, die mehr ist als subjektiver Ausdruck und objektive Darstellung. Die Konkrete Fotografie sollte ihr rasch folgen. Sie ist, so Gottfried Jäger auf seiner Website, „eine Form der Selbstbehauptung“. Generative und Konkrete Fotografie sind Wahlverwandte und treue Gefährten beim Kampf um die Freiheit der Fotografie. Sie gilt es Anfang 1968 zuallererst zu erobern. Es ist eine andere Revolution, die hier unternommen wird, aber gleichwohl eine ästhetisch radikale, die ihre Wirkungen bis heute zeitigt und die Welt der Fotografie zu einer anderen gemacht hat. Die fotografische Autonomie wurde konkret. Dafür ist Gottfried Jäger Dank auszusprechen.

Dass Gottfried Jäger heute mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie ausgezeichnet wird, ist Zeichen dafür, dass der Kampf gewonnen ist und, um im Bild zu bleiben, auch der Marsch durch die Institutionen erfolgreich war. Steinert und Pawek, von denen er sich einst absetzte, haben disen Preis schon vor Jahrzehnten erhalten, der eine dabei äußerst umstritten als einziger postumer Preisträger. Auch ihre vermeintlich unpolitische Positionierung der Fotografie gewinnt vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit ihren historischen Hintergrund, vor dem sich ihre ästhetisch-fotografischen Überzeugungen profilieren. Davon ist bei Gottfried Jäger nicht die Rede, auch wenn er von heftigen inneren und äußeren Kämpfen spricht, die die Anfänge begleitet hätten. Doch diese hätten sich als Scheingefechte erwiesen. Er hat sie gleichwohl, und auch das gehört zu seinen besonderen dialogisch-dialektischen Qualitäten, mit hinein in die Institutionen genommen. Das Atelier und die Fachhochschule wurden zum Ort des Dialogs, zum theoretischen wie ästhetischen Experimentierfeld. Eingeladen wurden keineswegs ausschließlich Weggefährten, sondern alle, die sich der neuen Welt der Fotografie verschrieben hatten. Gottfried Jäger hat so die Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld in die „Bielefelder Schule“ verwandelt, die ihren Namen zurecht trägt: Sie ist nicht die Verkündung einer fotografischen Heilslehre, sondern ein theoretisches wie ästhetisches Labor in Lehre und Forschung. Sie ist heute aus der Geschichte der Fotografie nicht mehr wegzudenken. Kaum ein Ort ist so produktiv wie dieser und kaum einer hat trotz der formalen Strenge ihrer Lehrer eine ähnliche Vielfalt an Positionen hervorgebracht und zuallererst ermöglicht. In Bielefeld wurde eine systematische Interrogation der Fotografie unternommen, die bei aller Innovation und Experimentierlust auch die Geschichte für sich entdeckt und erobert hat. Dazu gehören auch die Bielefelder Symposien über Fotografie und Medien, die mittlerweile seit über 30 Jahren bestehen, aber auch Vortragseinladungen an so vermeintlich fotografieferne Wesen wie Philosophen und Literaturwissenschaftler, Medientheoretiker und Naturwissenschaftler. Die Hochschule wird zum Experimentierfeld für die neue, für die freie Fotografie. Bei all ihren Neupositionierungen hat die Bielefelder Schule dabei die Geschichte des Mediums nicht vergessen, sondern im besten dialektischen Sinn aufgehoben. Die Fotografie ist zu sich selbst gekommen. Das ist die fotografische Dialektik, die Gottfried Jäger auch in seinen eigenen ästhetischen und theoretischen Arbeit umgesetzt, vollzogen und zu einem offenen Abschluss gebracht hat. Er hat die Fotografie zurück ins Reich der Freiheit geführt. Hierfür gebührt ihm ein großer Dank.

2. Es kommt der Fotograf der Fotografie!

Und doch begann alles mit den Maschinen. Denn als Fotograf der Fotografie, der er ist, hat Gottfried Jäger entdeckt, dass die Freiheit der Fotografie, ihre Autonomie, nur dann freizulegen ist, wenn man sich über ihre technischen Voraussetzungen klar wird, wenn man die apparativen Bedingungen der fotografischen Bildproduktion zum Gegenstand macht. Die Freiheit liegt im Apparat und kann nur dort gefunden werden. Außerhalb des Apparats mag und sollte es allerlei Formen der Freiheit geben, aber eben keine fotografischen. Es gibt keine Autonomie der Fotografie ohne ihre technischen Dispositive. Das bedeutet auch, dass Technik und Ästhetik Hand in Hand gehen müssen. Die Autonomie der Fotografie wird eine technische sein oder sie wird nicht sein. Auch das ist ein Akt der Aufklärung.

Diese besondere technische Erhellungsarbeit, die einen „systematisch- konstruktiven Weg“ beschritten hat, stand auch am Anfang der gesamten Bewegung, die, wie wir gesehen haben, ästhetischer, theoretischer und institutioneller Art ist. Bei Gottfried Jäger beginnt die Trias „Apparative Kunst“, „Generative Fotografie“ und „Konkrete Fotografie“, in die er auf seiner Homepage und andernorts sein Werk gebracht hat, mit dem technischen Apparat, der Kunst hervorbringt, aber auch der Wissenschaft verpflichtet ist. Die Opposition zwischen Kunst und Technik, die die Fotografie über ein Jahrhundert lang geprägt, gezähmt und eingegrenzt hatte, wird dialektisch aufgehoben, indem Jäger die Fotografie als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine und daher als Interaktion zwischen diesen beiden Momenten begreift. Die fotografische Kunst ist notwendig technisch und ohne Apparate und Maschinen, Techniken und Verfahren nicht zu denken, aber auch nicht zu praktizieren. Jeder Fotograf ist daher eine Art Cyborg, ein kybernetischer Organismus, ist Teil eines Mensch-Maschinen-Komplexes, den die Fotografie zu erhellen hat.

In der Literaturwissenschaft, aus der ich stamme, wurde 1961 eine Zeitschrift gegründet, die mit ihrem Namen Sprache im technischen Zeitalter signalisieren wollte, dass Sprache und Literatur maßgeblich wie nachhaltig durch Technik und Medien geprägt werden und die überkommene Literaturwissenschaft dem endlich Rechnung zu tragen habe. Gottfried Jägers Erkundung der generativen und konkreten Fotografie ist so etwas wie das Pendant dieser Zeitschrift in der Welt der Fotografie. Fotografie hatte, so bizarr das auch klingen mag, sowohl im Reich der Freiheit als auch in dem der Technik zuallererst anzukommen und ihre Position in dieser zu bestimmen. Auch sie war vor einem halben Jahrhundert eigentümlich rückständig und bediente sich fortwährend einer Technik, deren Implikationen und Voraussetzungen einzig technisch zum Untersuchungsgegenstand geworden waren. Es galt, die Ästhetik und auch die ästhetische Theorie der Fotografie auf den Stand der Zeit zu bringen. Für diese Klärung der Funktion und Stellung der Fotografie im technischen Zeitalter und der medialen Welt erwiesen sich traditionelle Theorien als wenig hilfreich und auch die ansonsten immer wieder bemühten Avantgarden halfen nur wenig weiter. Es brauchte neue Denkmodelle, um zu verstehen, welche Aufgabe die Fotografie in der technischen Welt haben kann. Daher das eindrucksvoll breite Theorierepertoire, mit dem Gottfried Jäger seine Texte instrumentiert, das aber auch seine Fotoarbeiten mit einem basso continuo versieht. Zu Beginn finden sich noch Anleihen bei Max Bense, dessen generative Ästhetik bei den Suchbewegungen Pate stand, oder auch Modelle der konkreten Literatur. Ein experimenteller Roman Helmut Heißenbüttels war Referenz einer der ersten fotografischen Serien Gottfried Jägers, die jedoch kaum als Illustration angemessen beschrieben werden können. Sie sind Erkundungen einer konkreten Fotografie eigenen Stils und loten subtil die Grenzen der Kamerafotografie aus. Diese sollte peu à peu dann im Œuvre Gottfried Jägers verschwinden und in einem Zug die Eigenlogik der Fotografie Raum gewinnen. Ohnehin haben seine Fotoarbeiten ein wunderbar komplexes theoretisches Rauschen, das jede genaue Betrachtung in Erkenntnis verwandelt. Anschauung wird notwendig zur Reflexion. Auch das ist Dialektik. Und auch dafür ist ihm zu danken.

Zu Beginn waren es kybernetische Theoriemodelle, die die Begriffe lieferten, aus denen dann Bilder wurden, später dann andere, überraschendere Gesprächspartner, die Gottfried Jägers investigativen Weg begleiteten, wie etwa, um nur zwei unter vielen anderen zu nennen, der Medientheoretiker Vilém Flusser und der Philosoph Lambert Wiesing. Mit ihnen erkundete er in Briefwechseln und aufeinander antwortenden Aufsätzen das Universum der technischen Bilder oder die Möglichkeiten und die Sinnhaftigkeit einer ungegenständlichen Fotografie.

Doch diesseits der abstrakten Theorie geht es zuallererst um die konkrete Materialität fotografischer Prozesse. Es geht, wie Jäger schreibt, um das Erkunden der „Fundamente des Fotoprozesses“ (Bildgebende Fotografie, 56). Gottfried Jäger arbeitet daher nicht nur mit einer Camera Obscura, sondern bringt Licht ins Dunkel des Apparats und treibt aus ihm neuartige Bilder heraus, die bis dahin ungesehen waren und sich als Elementarformen verstehen, wie er in seinem eindrucksvollen Buch Bildgebende Fotografie programmatisch schreibt. Und weiter: Gottfried Jäger spielt mit Positiven und Negativen als Umkehrformen, entdeckt das Fotogramm als Möglichkeit, um nicht nur die Avantgarden im allgemeinen und Moholy-Nagy im besonderen ästhetisch-theoretisch zu erkunden, sondern zurück bis zu den Anfängen der Fotografie zu gehen, dies aber mit der klaren Intention, das, was dort zum Bild wurde, nun zur intellektuellen Anschauung zu machen. Er arbeitet gelegentlich mit Kamerafotografien, aber auch mit Foto- und Computergrafiken, Montagen und Luminogrammen, der eigentümlichen visuellen Materialität des Fotopapiers und last but not least mit Projektionsüberblendungen, die ad libitum gestellt werden. Die Welt der Fotografie wird in ihre elementaren Einheiten zerlegt und dann neu montiert und in Serien übersetzt, die regelrechte experimentelle Versuchsreihen darstellen. Die Fotografie bleibt in diesem Durchgang nicht dieselbe, sondern steht am Ende verwandelt da: ein technisch-ästhetisch- intellektuelles Wunderland der Bilder, die doch ganz konkret sind. Sie sind Fotografien der Fotografie. Die Fotografie ist wieder zu einem Kosmos geworden und führt uns eine neu geordnete und anders konfigurierte Welt vor Augen. Die Fotografie wird nun im Wortsinn zur theoria, zur Anschauung. Sie zeigt uns eine andere Welt, ja ist eine andere Welt.

Mit der Welt der Anschauung, mit jener der Bilder, die die Kamera gemeinhin aufnimmt, ist sie über die Theorie vermittelt. Die Erkenntnisse und Einsichten, die der Fotograf der Fotografie in der Camera obscura gewinnt, sind systematische Entwicklungen einer ästhetischen Theorie, die sich der fotografischen Aufklärung verschrieben hat und daher keineswegs auf die eigenen fotografischen Arbeiten beschränken. Daher der besondere theoretische Zug, der Gottfried Jäger zu Eigen ist. Zu seinem eindrucksvollen Œuvre gehören eben nicht nur zahlreiche Werkgruppen mit immer wieder neuen und immer neu überraschenden Bildwelten, die streng und sperrig, radikal und reduziert, anschaulich und anregend zugleich sind, sondern eben auch seine Arbeit in Lehre und Forschung, seine Tätigkeit an der Fachhochschule Bielefeld und darüber hinaus sowie eine Fülle an Aufsätzen und Büchern, deren Aufzählung allein die mir gegebene Zeit problemlos ausfüllen würde. Anzuführen wären etwa zwei Dutzend Bücher, weit über einhundert Aufsätze sowie Interviews, Vorträge, von ihm mitorganisierte und konzipierte Symposien und Ausstellungskataloge. Zu seinem Werk gehören aber auch seine Kuratorentätigkeit, die eine Vielzahl von Ausstellungen von Heinz Hajek-Halke und Manfred Kage, über Herbert W. Franke und László Moholy-Nagy bis hin zu Carl Strüwe ermöglicht hat, und seine eigene wissenschaftliche Forschung. Gottfried Jäger ist, das sei en passant angemerkt, der einzig mir bekannte Professor, der erst nach seiner Emeritierung promoviert worden ist - nämlich mit einer Dissertation über Carl Strüwe, die den Titel trägt: Mikrofotografie als Obsession. Carl Strüwe (1898-1988). Das fotografische Werk. So wie Strüwe den Mikrokosmos obsessiv erkundet, tut dies Gottfried Jäger für den Makrokosmos der Fotografie. Beide bleiben ihrer Suche treu und entdecken eine neue Welt, die eigentlich schon längst hätte bekannt sein sollen: Es ist die Welt der Fotografie. Es ist eine Welt mit eigenen Gesetzen. Auch für diese vielfältigen Erkundungen gebührt ihm großer Dank.

Doch wie kann man Gottfried Jägers Suche charakterisieren? Vielleicht indem man den berühmten Titel eines Buches der Avantgarden aufnimmt: Es kommt der Fotograf der Fotografie! Er betritt Ende der 1960er Jahre die Bühne der fotografischen Welt, um aus ihr eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen und Regeln und einer neuen Sprache zu machen. Wie jener Fotograf der 1920er Jahre ist auch Gottfried Jäger immer Theoretiker und Praktiker zugleich: Seine ästhetischen Erkundungen befördern die Theorie wie diese umgekehrt auch die Praxis stimulieren und weiter vorantreiben. Und wie jene sucht er nach einer neuen Sprache, die sich ebenso scharf wie scharfsinnig von den tradierten Formen absetzt. Und wie Gräffs Fotograf zielt auch Gottfried Jäger auf eine didaktische Umsetzung der aufregenden Entdeckungen in der Camera obscura des Apparats. Dieser ist nicht länger eine Black Box, sondern ein Apparat, den es zu nutzen gilt, um eine Welt überhaupt erst hervorzubringen. Ein jedes gewonnenes Bild ist zumeist nicht nur Teil einer Serie, sondern Beginn von vielen weiteren. Ein jedes Mal beginnt die Geschichte der Fotografie von neuem. Denn die Fotografiegeschichte erweist sich in seinen Arbeiten wie bei kaum einem anderen als reversibel, als produktiv wiederholbar. Gottfried Jäger lehrt uns die Fotografie, dieses vermeintlich alt- und allen bekannte Medium, mit neuen Augen zu sehen.

Damit sind wir wieder bei der Frage der Autonomie der Kunst und der Fotografie angekommen. Der bereits erwähnte Vilém Flusser sah in seiner Philosophie der Fotografie nur eine einzige Möglichkeit, die Black Box der Kamera mit ihrem Programm-Determinismus in einem Raum der Freiheit zu verwandeln: Die Fotografie habe „die Aufgabe, über diese Möglichkeit der Freiheit [...] in einer von Apparaten beherrschten Welt nachzudenken“i und dabei die Möglichkeit auszuloten, „gegen den Apparat zu spielen.“ii Ansonsten sei sie nichts anderes als ein willfähriges Medium der Voreinstellungen des Apparats. Die Fotografie bestimmt, so will es die Theorie, den Spielraum der Freiheit des Menschen in einer apparativ bestimmten Welt, indem sie mit der Kamera gegen sie spielt. Auch das ist Fotografie der Fotografie. Ihr kommt daher eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung zu, geht es doch um nichts Geringeres als um das Leben im technischen Zeitalter. Das ist die Aufgabe, die der Fotograf der Fotografie Gottfried Jäger ebenso beharrlich unbeirrbar verfolgt hat und weiterverfolgt. Auch dafür gebührt ihm ein besonderer Dank.

3. Fotografische Weltkarte

Eine seiner bekanntesten Aufnahmen stammt nicht von ihm, sondern von seiner Frau Ursel. Sie trägt den etwas technisch-enigmatischen Titel „Gottfried Jäger präsentiert seine ‚Lochblendenstruktur 3.8.14 F’“ - andernorts lautet er einfach „Pressefoto“ -, den vermutlich allein Fotografiehistoriker oder Jäger-Experten werden decodieren können, und stammt aus dem Jahr 1968, von dem bereits die Rede war. Nun kommt es mir jedoch nicht darauf an, Gottfried Jäger als verkappten Alt-68er zu präsentieren und zu würdigen, denn das würde an seinem Werk vorbeigehen, sondern vielmehr als Schöpfer einer fotografischen Welt eigenen Rechts und Bestands. Die ikonografische Tradition, in der diese Aufnahme steht, verdeutlicht, in welcher Weise die Fotografie nun Welt geworden ist.iii Die um 1300 entstandene Ebstorfer Weltkarte zeigt uns den göttlichen Weltenschöpfer mit nackten Füßen. Die von ihm erschaffene Welt, auf der auch eine Darstellung des Paradieses nicht fehlt, ist zu seinem Körper geworden. Die Karte, das sei hinzugefügt, wurde im zweiten Weltkrieg zerstört, dann aber aufgrund von fotografischen Reproduktionen rekonstruiert. Doch selbst in der überlieferten Form weist sie an einigen Stellen Lücken durch Mäusefraß auf, zu denen auch der Bereich Deutschlands gehört, in dem Gottfried Jäger geboren wurde. Burg im Jerichower Land wird man dort vergeblich suchen. Gottfried Jäger hat diese Lücke auf seine eigene Art gefüllt und die Karte insgesamt restituiert - allerdings in einer anderen Welt: in der Welt der Fotografie. Denn wenn uns Gottfried Jäger nun das von ihm geschaffene Bild präsentiert, so zeigt er uns die fotografische Welt. Dabei ist auch der Pudel, der sich an seinem linken Fuß zu schaffen macht, wohl nicht zufällig gewählt. Nicht Faust, sondern Steinert ist, wie Enno Kaufhold vermutet, die ironische Referenz und somit des Pudels fotografischer Kern.iv Dass er diese Welt erschaffen hat, ist dabei anders als bei der göttlichen keineswegs entscheidend, denn das Bild ist Ergebnis eines kalkulierten Prozesses, den Jäger 1976 rekonstruiert und wiederum in ein Bild gebracht hat. Wir können so auch die enigmatische Bezeichnung entziffern: „3“ verweist auf das „apparative System“, genauer auf die „multiple Lochblenden- kamera in Verbindung mit einem variablen Lichtobjekt“, „8“ und „14“ auf das „Zeichenstruktur-Kollektiv 1. Ordnung“ von insgesamt 14 Bildern, „F“ schließlich auf die „Wahl des gestalterischen Verfahrens“ (hier die Option „rotatorische Überlagerung“). Diese Auswahl ist damit grundsätzlich wiederholbar, zielt sie doch auf elementare Formen fotografischer Prozesse, die auf Reproduzierbarkeit zielen. Die Fotografie ist im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit angekommen und begreift dies als kreative Möglichkeit, „generative Systeme“ zu kreieren, die autonome Formen ausbilden können, die der Fotografie und nur ihr zu eigen sind. Es ist, wie wir sehen können, auch nicht die beste aller möglichen fotografischen Welten, die hier gezeigt wird, sondern vielmehr eine Aufnahme aus einer Serie, bei der verschiedene Variablen durchdekliniert werden, um gesetzmäßig Fotografien hervorzubringen, die ihrerseits die Gesetze der Fotografie vor Augen führen. Ihre Blaupause legt der Verfahrensplan willentlich wissentlich offen. So funktioniert die Fotografie. Wir sind am degré zéro, am Nullpunkt der Fotografie angekommen, an dem sich fortan ein jeder ästhetische und theoretische Kompass auszurichten hat. Doch der Nullpunkt ist eben nicht reine Technik, sondern eine, die Bilder als Theorien vor Augen führt. Daher handelt es sich bei diesem Bild wie bei vielen anderen um eine regelrechte Kartierung der fotografischen Welt insgesamt. Die Beschreibung Gottfried Jägers benennt daher Gesetze, Elementarzeichen, Zeichenaggregate, Zeichenstrukturen, gestalterischen Verfahren, Umsetzungsstufen und Präsentationsformen. Das sind die Figuren der fotografischen Welt. Und so hält der Fotograf das Ergebnis seiner Recherche in Händen - und dies zu Recht nicht ohne Stolz, aber auch nicht ohne Ironie.

„Fotografie ist bildgewordene Dialektik“, heißt es in Gottfried Jägers Buch Bildgebende Fotografie.v Ihre Einsichten in Anschauungen und Erkenntnisse verwandelt zu haben, ist das besondere Verdienst Gottfried Jägers. Dafür gebührt ihm ein weiteres Mal ein großer Dank.

Ihm wird heute ein Preis verliehen und mit ihm ein besonderes Objekt: Neben einer Urkunde erhält er eine von Ewald Mataré gestaltete, goldgefasste optische Linse. Wer, wenn nicht Gottfried Jäger, würde das Insignium seiner eigenen theoretisch-ästhetischen Arbeit als Auszeichnung erhalten? Wenn Gottfried Jäger nun die Linse in Händen halten wird, so ist das eine besondere Auszeichnung, aber auch Zeichen dafür, dass die Fotografie im besten dialektischen Sinn gut aufgehoben ist. Dafür ein letztes Mal ein herzlicher Dank und ein besonderer Glückwunsch.

Die Ebstorfer Weltkarte war eine mittelalterliche Weltkarte von ca. 3,57 m Durchmesser auf 30 zusammengenähten Pergamentblättern mit Jerusalem als Mittelpunkt. Mit mehr als 2.300 Text- und Bildeinträgen war sie nach derzeitigem Kenntnisstand die größte und umfangreichste mappa mundi (Weltkarte) aus dem Mittelalter. Sie verbrannte 1943, erhalten sind Reproduktionen, die das Original jedoch nicht vollständig wiedergeben können (Wikipedia v. 1. 5. 2014).

i Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983, S. 74.
ii Ebd., S. 73.
iii Den Bezug verdanke ich Felix Thürlemann. Vgl. Bernd Stiegler und Felix Thürlemann: Meisterwerke der Fotografie, Stuttgart 2011, S. 272f.
iv Enno Kaufhold: Laudatio, in: Andreas Beaugrand (Hg.), Gottfried Jäger. Fotografie als generatives System. Bilder und Texte 1960–2007, Bielefeld 2007, S. 10-19, dort S. 15f.
v Gottfried Jäger: Bildgebende Fotografie, S. 84.

 

Gottfried Jäger 2014 - Laudatio Bend Stiegler​






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